Was ist GESTALTTHERAPIE?

Um mit dem provokanten, emanzipatorischen Potential der Gestalttherapie zu beginnen, sei ein Ausschnitt des Vorspanns zu de Roecks „Gras unter meinen Füßen“ (1982) zitiert:
Bei der Gestalttherapie geht es „um dich und mich und um unsere Erfahrung hier und jetzt“, sagt Bruno-Paul de Roeck. „Um Wachstum: spontaner, lebendiger, glücklicher zu sein. Deinen eigenen Kern mehr wertschätzen. Neue Schritte riskieren. Von der (üblichen, Anm. LHK) Psychotherapie erwartet man, daß sie Menschen anpaßt und sie wieder in das gesellschaftliche Joch einspannt. Gestalt versucht, angepaßte Menschen, die in ihrem Joch nicht glücklich sind, wieder auf eigene Füße zu stellen.“ – (De Roeck war 17 Jahre lang Mönch in einem kontemplativen Orden, später Mitarbeiter in einem Kommunikationszentrum für politische und religiöse Bildungsarbeit sowie Dozent für Sozialarbeit.)
Im obigen Text klingt die humorvolle Kurzdefinition von (Dr. med.) Fritz Perls an, „I and Thou – Here and Now“, die sich ihrerseits vor Martin Bubers Ansatz „I and Thou“ verbeugt, dessen Menschenbild und Beziehungsangebot nach wie vor für die Gestalttherapie Pate steht.

Nüchtern und relativ knapp formuliert, läßt sich Gestalttherapie so definieren:

Gestalttherapie ist ein Psychotherapieverfahren, das seine Wirksamkeit primär aus seinem differenzierten, adaptationsfähigen, therapeutischen Beziehungsangebot, seinem humanistischen Menschenbild sowie aus seinem erlebnis- und erfahrungsgeleiteten Zugang zu den Problemfeldern schöpft. Seine bewußt achtsame Vorgehensweise dient dem Strukturaufbau, der Potentialentfaltung und der Reifung. Es stützt sich im inneren und äußeren Wahrnehmungsfeld auf die Beobachtung von Phänomenen und leitet den Patienten zur Selbstexploration und Selbstdefinition an. Gestalttherapie nutzt bei konfliktfähigen Persönlichkeiten die Möglichkeit, konfligierende, intrapsychische Teilaspekte zu personifizieren und sie in einen klärenden, lösungsorientierten Dialog zu bringen.
Aufgrund ihrer methodischen Ausgefeiltheit mit dem psychodynamischen Kräftefeld umzugehen, ist sie für die tiefenpsychologische Denkweise anschlußfähig; mit ihrer Erfahrungsorientierung und einer gewissen Übungsbereitschaft gibt es auch Brücken zur Verhaltenstherapie. – Gestalttherapie ist auf allen strukturellen Ebenen, bei allen Altersklassen und Störungsbildern sowie in allen üblichen Settings (Einzel-, Paar- u. Gruppentherapie) wirkungsvoll einsetzbar. Eine Gegenindikation ist nicht bekannt. Aus den gestalttherapeutischen Kriseninterventionen hat sich die Traumatherapie entwickelt.

Nun etwas ausführlicher, denn Gestalttherapie ist überaus facettenreich:

Selbst die therapeutische Beziehung weist verschiedene Schwerpunkte auf: a) die wertungsfreie Basisakzeptanz, die dem “I-and-Thou” Bubers entspricht, wird auf den Wesenskern des Menschen gerichtet, selbst, wenn es den Anschein macht, daß dieser mit seinem eigenen Inneren noch keinen wirklichen Kontakt gefunden hat. b) Dann gilt es, gemäß der ressourcenorientierten Einstellung aller Humanistischen Verfahren das Gelungene des Gegenübers in den Blick zu bekommen und c) das verborgene Entwicklungspotential zu erahnen. Das kann verbal oder nonverbal in die Beziehung einfließen.- d) Das belastende Mangelerleben, die strukturellen Defizite, die Traumata, das unbewußte Konfliktgeschehen oder die unbewußt fixierten Fehlüberzeugungen bei Persönlichkeitsstörungen werden hingegen eher mit der distanzierenden „Ich-Es“-Wahrnehmung (im Sinne Bubers) registriert. e) Die Konfrontation mit den „unteroptimalen“ Überlebenskonzepten erfolgt aus der Sicht des damals in Not gekommenen Persönlichkeitsanteils (meist einem Kinder-Ich-Aspekt), das vom Therapeuten empathische Solidarität zu spüren bekommt und nach seiner damaligen emotionalen Situation gefragt wird, soweit es sich imaginär in die damalige Situation hineinbegibt. Mithilfe der unterstützenden, therapeutischen Allianz wird es möglich, die damalige Situation (Konfrontation) aufrichtiger und erfolgreicher durchzustehen und so einen emotional blockierten Prozeß abzuschließen. Das verändert das Selbstbild. Der Therapeut steht dem Patienten, der oft partiell zum Kind regrediert, dabei als elterliche Schutzfigur, aufrichtiger Freund oder Sachverständiger zur Verfügung. Er hilft dem Pat., aus der imaginierten Problemsituation gestärkter (progressiver) hervorzugehen.- Bei belastendem Mangelerleben ist oft gemeinsame, erlösende Trauerarbeit angesagt.- Bei strukturellen Defiziten liegt der Schwerpunkt auf dem kleinschrittigen Aufbau der erwünschten Entwicklungsschritte durch achtsames Belohnen auf der Beziehungsebene. Die Extremvarianten im Fühlen und Verhalten werden vom Therapeuten eher in distanzierterer Weise registriert. – Für die Traumatisierten stehen Stabilisierungs- und Distanzierungs-Methoden zur Verfügung. Aus dieser primär gestalttherapeutischen Krisenintervention hat sich u.a. die Traumatherapie entwickelt.- f) Bedarfsweise übernimmt der Therapeut zwischendurch die Rolle des Experten, der zur Vertiefung des Prozesses Methoden vorschlägt, z.B. fokussierte Regression mit biographischen Szenenaufbau, – kreative Medien zur Projektion, Symbolisierung und Neuordnung der inneren Welt, – freies Bewegungs-Experiment zur Kontaktaufnahme mit dem Inneren und seiner Ausdrucksgestaltung,- etc
Die Gestalttherapie kennt also auch (bereits seit ihren Anfängen in den 50 und 60ern) übende Elemente, die gewonnene Einsichten stabilisieren sollen. In Gruppen kann es sich um Probehandlungen an anderen Teilnehmern als Stellvertreter handeln. Und sie kennt „Hausaufgaben“, sofern sich diese aus dem therapeutischen Prozess heraus entwickelt haben. Manchmal geht es darum, die persönlich passendste und alltagstauglichste Variante eines hilfreichen Rituals herauszufinden.

Methodisch gesehen ist Gestalttherapie ein erlebnis- und erfahrungsorientiertes, ausgeprägt dialogisches und phänomenologisches Vorgehen, d.h. eines, das sich an den offensichtlichen Erscheinungen im inneren und äußeren Beobachtungsraum orientiert, das über diese subjektive Wirklichkeit unmittelbar und hypothesenfrei austauschen läßt – und im „therapeutischen Experiment“ die Freiheit zu alternativen, korrigierenden Neuerfahrungen und Handlungsentwürfen einlädt. – Dialoge gibt es auf verschiedenen Ebenen. Typisch für die gestalttherapeutische Vorgehensweise ist a) der Dialog zwischen konflikthaften Teilaspekten des Patienten, z.B. zwischen seiner Angst und einem psychosomatischen Symptom (z.B. Kloß im Hals) oder zwischen zwei Wünschen, z.B. wegzulaufen und standzuhalten, etc. Der Patient verteilt die konfligierenden Aspekte auf verschiedene Stühle (oder andere Projektionsorte) und argumentiert nacheinander aus wechselnden Perspektiven. Es handelt sich um eine vertiefte Selbstexploration mit offenem Ausgang. Oft erscheinen beim Explorieren der Motivation assoziativ als eigentliche Quelle ältere Kulissen mit Konfliktmuster, die es als erstes zu bereinigen gilt. Der Therapeut übernimmt dabei eine möglichst einfühlsame, diskrete Regie. b) Der Therapeut regt den Patienten (in sokratischer Weise) zur Selbstdeutung an, also zum inneren Dialog. Der Pat. ist sein eigener Experte innerhalb seiner Welt. Einfälle des Therapeuten zum Geschehen können (als solche deklariert) angeboten werden, aber mit dem Vermerk, daß sie eben nicht aus der Welt des Pat. stammen und „daneben“ sein können. Sie müssen für den Pat. subjektiv leicht abwählbar sein. c) Zwischen Therapeut und Patient gibt es unmittelbare Dialoge über das Erleben im Hier und Jetzt. Dies läuft nicht auf der Übertragungsebene, sondern, trotz asymmetrischer Rollenverteilung, auf der Realebene. Die Haltung des Therapeuten ist „selektiv authentisch“, d. h., er spricht aus, was dem Prozeß dienlich scheint, aber er behält Aspekte eigener Wünsche oder Problematiken ein.- Übertragungselemente werden frühzeitig abgelöst. Sie dienen als wichtige Wegweiser zu Kernkonflikten, die in fokussierter Einzel-Regressionsarbeit bearbeitet werden.

Strukturell gesehen leben wir in einer Hiearchie von Ganzheiten/ Systemen, die, abgesehen von der unvorstellbar übergreifenden Gesamtgestalt des „Alleinen“, je nach Perspektive, gleichzeitig Teil- und Ganzheits-Charakter haben. z.B. ist eine Familie für den Staat ein Kleindetail, für das Kind darin ist die Familie zunächst seine maßgebliche Bezugswelt, die es prägt.- Interessant ist stets, welche (erfahrungsbedingten) Unterscheidungen in einer subjektiven Welt Bedeutung erlangen und die weiteren Wahrnehmungen beeinflussen. Solche Akzentsetzungen dienen oft als Wegweiser zu Konfliktfeldern. –
Die Gestalttherapie achtet sehr auf das jeweils stimmige Gleichgewicht zwischen den verschiedensten Erfahrungs-Polen, z.B. zwischen Selbst- und Fremdbestimmung, bzw. dem Verständnis als freies, eigenständiges Individuum versus abhängiger, kontextbestimmter Teilaspekt des Gesamtsystems, (soweit man dieses jeweils zu erfassen vermag,) – oder zwischen Kontakt nach innen und nach außen – oder zwischen der durch mein derzeitiges Interesse hervorgehobene Vordergrundfigur („Gestalt“) und ihrem Hintergrund, der mir im gleichen Moment entgeht – oder zwischen den emotionalen Widersachern wie Liebe und Haß. (Die übergeordnete Ganzheit letzterer wäre: „für jemanden Bedeutung haben“.)- Diesem Entwurf liegt zugrunde, daß die integrierende Ganzheit jeweils bereits vor ihrem Zerfall in Polen existiert, – daß Ganzheit und ausdifferenzierte Vielheit in einem dynamischen Wechselspiel stehen – und auch, daß jeder Teilaspekt eine Zeitlang seinen bestimmten Platz im Ganzen hat.
Kontakt in gestalttherapeutischen Sinn ist ein interessantes Phänomen, das mit dem Andersartigen verbindet und zugleich Grenzen setzt. Beide Funktionen können in verschiedenen Variationen gestört sein. Als Teilaspekt des Kontaktes wird das wertneutrale Ad-greddi, das Darauf-zu-gehen, aufgefaßt, dem eine Mittelstellung zwischen Intentionalität und Aggression zukommen dürfte.
Die Vorder- Hintergrunddynamik nimmt einen relativ bedeutsamen Platz ein. Im Normalfall wird etwas über eine spezielle Motivation in den Vordergrund geholt, (erscheint als „Gestalt“), um danach wieder losgelassen zu werden und zu verblassen. Sehr häufig wird an subjektiv Bedeutsamen über die angemessene Zeit hinweg festgehalten, z.B. an aufwertenden oder lieb gewonnenen Identitätsaspekten, sowie an konflikthaft fixierten Affekten. Die Kunst des Loslassens und Verwandelns hat daher in der Gestalttherapie einen ähnlich großen Raum wie die der wachstumsfördernden Entfaltung.